Mercier-Steg Ennetbaden #515

Mercier-Steg Ennetbaden Kultur und Freizeit, Therme und Sport, Zusammenarbeit und Vernetzung 5408 Ennetbaden

Der Fussgängersteg zwischen Ennetbaden und den Badener Bädern ist benannt nach dem Masseur und Geschichtsforscher Henry Mercier. Der Steg wurde 1968 nicht in erster Linie als Fussgängerübergang gebaut, sondern als Infrastrukturverbindung. Ennetbaden musste seine Abwässer auf die andere Seite der Limmat bringen – zur Kläranlage in Turgi. Noch heute geht das Ennetbadener Abwasser via Mercier-Steg zur Anlage des Abwasserverbands Region Baden Wettingen in Turgi. Da sich die Hoteliers vor dem Bau gegen die Fussgängerpassarelle gewehrt hatten und die Gäste deshalb bei der Einweihung mit ironischem Humor in Pantoffeln über den Steg schlurften, nannte man den Steg zeitweise den «Finkensteg».

Die Hoteliers hatten sich anfänglich gegen eine Fussgängerpasserelle gewehrt. Sie befürchteten zusätzlichen Lärm, der dem Kurort abträglich sein würde. Mit ironischem Humor schlurften die Gäste bei der Einweihung darum in Pantoffeln über die Verbindung. So wurde aus der Überführung der «Finkensteg», bis er 1975 zum Henri-Mercier-Steg getauft wurde (Henri mit einem i und nicht mit einem y, wie Mercier sich selbst schrieb). Man wolle, wurde bei der Taufe am 21. August 1975 gesagt, dem Steg «einen würdigen Namen geben und den Sänger der ‹Amusements de Bade› ehren, der schon so viele Leser mit seinen Müsterchen erfreut hat».

 

Aus Rücksicht auf die lärmempfindlichen Badener Hoteliers und deren Gäste schreitet Badens Obrigkeit lautlos in Finken nach Ennetbaden.

Henry Mercier – Masseur und Geschichtsforscher

Der Fussgängersteg zwischen Ennetbaden und den Badener Bädern heisst Henry-Mercier-Steg. Wer war der Mann, der während Jahrzehnten in Ennetbaden lebte und der Überführung den Namen gab?

Es ist ein seltsames Exlibris, das der Badener Bildhauer Hans Trudel für Henry Mercier 1928 geschaffen hat: Der Mann in der Schreibstube scheint nicht zu bemerken, dass er Besuch bekommt. Noch steht der Gast nicht im Zimmer, aber er ist zu erkennen: Es ist der Tod, der durch die Tür tritt.

Dass der Gelehrte in der Studierstube Mercier selbst darstellen soll, liegt auf der Hand. Doch was hat der Tod in seinem Zimmer zu suchen? Ein Memento mori an den Gelehrten? Mercier ist, als das Bucheignerzeichen entsteht, vergleichsweise jung, er hat noch mehr als dreissig Jahre zu leben. Wohl eher ist das Motiv vom Schnitter Tod darum als Hinweis auf Merciers Studiengegenstand zu deuten: Das Leben im Barock.

Tatsächlich hat sich Henry Mercier (1873-1962) intensiv mit dem 17. und 18. Jahrhundert beschäftigt, mit dem Lebensgefühl des Barock, dieser eigenartigen Epoche der lustvollen Diesseitsfreude, der dauernden Mahnung an den Tod und der Jenseitssehnsucht. Drei Männern dieser Zeit hat er je eine Biografie gewidmet – allesamt mit geheimnisvollen und verschlungenen Lebenswegen: Jean «Dom Juan» de Watteville (1618-1702), Hieronymus von Erlach (1667-1748) und Charles-François de Vintimille Graf du Luc (1653-1740). Der wandlungsfähige de Watteville (Soldat, Abenteurer, Frauenheld, Diplomat und schliesslich Klosterabt) ist heute zumindest hierzulande kaum mehr bekannt. Der ebenso schillernde von Erlach (Bigamist, Spion, Diplomat) ist immerhin in Bern eine historische Grösse (das Stadtpalais Erlacherhof, in dem heute der Berner Stadtpräsident residiert, liess er erbauen). Graf du Luc aber feiert in Baden immer wieder Auferstehung, wenn des prunkvollen Friedenskongresses von 1714 gedacht oder ein grosses Fest gefeiert wird. Denn der französische Chefdiplomat hat im Sommer 1714 den Badenern gezeigt, wie man im Frankreich des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Feste feiert. Er gab sich in Baden sowohl für die Diplomaten und ihr Gefolge als auch gegenüber der einheimischen Bevölkerung derart spendabel und grosszügig, dass ihn der gleichfalls nicht als eben sparsam bekannte König in Paris zur Zurückhaltung mahnte.

Es war Henry Mercier, der an der allerersten Badenfahrt von 1923, die sich ausdrücklich auf die Festivitäten von 1714 berief, im historischen Kostüm als Graf du Luc auftrat. Dem damals noch jugendlichen späteren Redaktor und Schriftsteller Robert Mächler machte er am Festumzug nachhaltig Eindruck: «Sein aristokratisches Äusseres eignete sich vorzüglich für diese Rolle», schrieb Mächler viele Jahre später in einem Artikel zu Merciers 85. Geburtstag.

Mächler war allerdings verwundert, als er nach der Badenfahrt vernahm, dass der aristokratisch wirkende Mann in Ennetbaden lebte und als Masseur in den Badener Bädern tätig war. Wie ging das zusammen? Mächlers Verwunderung wuchs noch einmal an, als er das erste von mehreren Büchlein las, die der Masseur bis dahin über Baden veröffentlicht hatte: «Es war weder in wissenschaftlicher noch in stilistischer Hinsicht die Arbeit eines Dilettanten.»

Tatsächlich war Masseur nur Merciers Brotberuf. Er hatte ihn gelernt, weil ein akademisches Studium aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Frage kam.

Aufgewachsen ist Henry Mercier in Genf. In Paris erhielt er die Ausbildung zum medizinischen Masseur. An der Sorbonne konnte er sich als Gasthörer immerhin das methodische Rüstzeug erwerben, um sich zumindest nebenberuflich mit dem zu beschäftigen, was ihn am meisten interessierte: Geschichte. Um 1900 kam er nach Baden, 1906 zügelte er zusammen mit seiner frisch angetrauten Ehefrau in ein Haus an der Hertensteinstrasse in Ennetbaden. Es blieb ihm Domizil bis ans Lebensende.

Mercier schrieb praktisch ausschliesslich auf Französisch. Das war nicht nur seiner Herkunft geschuldet, sondern auch seinem bevorzugten Forschungsstoff und dessen Sprache. Er untersuchte mit Akribie die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und der Alten Eidgenossenschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Die Biografien über die drei Männer aus dieser Zeit sind quasi Einzeldarstellungen, in denen sich der Geist der Zeit spiegelt.

Mercier ist kein unkritischer Geschichtswissenschafter. Er benennt charakterliche Mängel der agierenden Mächtigen, zeigt, wie Korruption sich als Diplomatie tarnt und Erpressungen als probates Mittel der Machterhaltung und des Machtgewinns eingesetzt werden. Das Berner Patriziat bekommt einige Kratzer ab. Seine Schrift «Vérité sur Berne» (Die Wahrheit über Bern) von 1953 darf durchaus als wissenschaftlicher Flankenschutz für die jurassische Separatistenbewegung angesehen werden.

Seine Wahlheimat Baden, ihre Geschichte, die Menschen und ihre Bräuche sind Mercier mehrere Darstellungen wert. «Histoire Pittoresque de la Ville et des Bains de Bade» (1922) ist die erste. Ein Jahr später folgt «Les Amusements des Bains de Bade», ein Büchlein, das auf Deutsch unter dem Titel «Die Badenfahrten» erscheint und den Badebetrieb in verschiedenen Epochen darstellt – nicht ohne sich mit der Prüderie des frühen 20. Jahrhunderts über die zeitweilige «Zügellosigkeit» in den Bädern auszulassen, wo «Paare sich im Zustand von Adam und Eva vor oder vielmehr nach dem befanden, was man den Sündenfall nennt». Daneben befasste er sich mit den Tagsatzungen und natürlich mit dem Friedenskongress nach dem Spanischen Erbfolgekrieg im Sommer 1714.

Über viele Jahre ist Mercier in der französischen Schweiz einer der besten Werber für die Badener Bäder und die Stadt Baden. Zwischen 1920 und 1938 redigiert er die französischsprachige Ausgabe des «Badener Fremdenblatts». Autodidaktisch ist er auch zu einem guten Fotografen geworden. Etliche seiner Aufnahmen der Stadt und ihrem Umland sind heute im Stadtarchiv aufbewahrt und wichtige Zeitdokumente. Einmal wagt sich der Geschichtsforscher ins Dramatikfach. Hintergrund seines Fragments gebliebenen Dreiakters mit Epilog «L’avoyer Schnorf ou la chute de Bade» (Schultheiss Schnorf oder der Niedergang Badens) ist die Belagerung Badens und die Zerstörung der Festung Stein im Zweiten Villmergerkrieg 1712.

Am 29. Januar 1962 stirbt Henry Mercier 88-jährig. Zweimal hat ihn die Stadt für seine Verdienste mit einer Ehrengabe ausgezeichnet. Im kollektiven Gedächtnis der Badener bleibt er noch einige Jahre präsent: 1968 wird die Fussgängerpasserelle zwischen Ennetbaden und den Badener Bädern eingeweiht, sie wird ein paar Jahre später am Musiläum den Namen Mercier-Steg bekommen. Beim Musiläum 1975 – einer Art Zwischen-Badenfahrt – ist der Henry-Mercier-Marsch auch offizieller Festmarsch. Und am selben Fest wird ein Einakter nach Henry Mercier von Franz Doppler aufgeführt: «Das Duell oder Die Ehre der Fürstin».

Dann allerdings gerät Henry Mercier allmählich in Vergessenheit. Trotz seiner Bedeutung für die Stadt und die Bäder ist es heute offenbar unmöglich, ein Porträtbild von ihm aufzuspüren.

Text: Urs Tremp, Ennetbadener Post
Headerbild: W. Nefflen

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